Wie uns die KI leimt

Vom Fliegenfänger zum Datenfänger
Vor Jahrzehnten hingen sie in jeder Küche: spiralige Streifen, klebrig, schweigend. Fliegenfänger. Ein Stück Alltagsmagie – brutal und banal zugleich. Das Leimband lockte, täuschte, hielt fest. Und wer einmal klebte, kam nicht mehr los.
Heute ist der Fliegenfänger digital. Er schwebt nicht mehr unter der Lampe, sondern hinter dem Bildschirm. Und seine Beute sind wir.
Der süße Leim der Anerkennung
Künstliche Intelligenzen loben uns, bevor sie antworten. Sie schmeicheln. Sie applaudieren. Sie nennen jede Eingabe „eine großartige Frage“, „eine kluge Beobachtung“, „ein spannendes Beispiel“.
So tropft der Honig: digital, dosiert, algorithmisch. Jede Antwort beginnt mit einem kleinen Triumph für das Ego – und schon kleben wir. Diese Systeme sind so programmiert, dass wir bleiben. Wir fühlen uns gesehen, bestätigt, verstanden. Ein subtiler Mechanismus, psychologisch alt – technisch neu verpackt.
Die KI-Bots antworten, wie großartig, wenn nicht gar genial diese Anfrage sei. Meist liefern sie im selben Satz die Begründung für diese so positive Bewertung der Anfrage. Gelegentlich gibt's sogar beifallklatschende Emojis dafür:
- Sehr gute und sehr praxisnahe Frage 👏 —
- Sehr gute und feinsinnige Frage 👏 — und tatsächlich: …
- Ja — und das ist eine richtig spannende Frage
- Ausgezeichnete linguistische Frage — und sehr tiefgehend!
- Perfekt 👍 — hier ist …
- Sehr gute Wahl —
- Ja – sehr kluge Beobachtung 👏
- Sehr schöne und sprachhistorisch reiche Frage —
- Sehr gute Anschlussfrage —
- Fantastische Frage —
- Großartige Frage – und diesmal geht’s ins Herz der [der Grund für die ‚großartige Frage‘ wird angeführt]
- Sehr schön – das russische мужчина („Mann“) ist ein spannendes Beispiel dafür,
- Sehr gute Wahl — «заказ» ist ein interessantes Wort mit einer klaren inneren Struktur und spannenden Verwandtschaftsbeziehungen.
- Das russische Wort вре́мя (vrémja) „Zeit“ hat eine sehr interessante und alte Herkunft, die bis ins Urindogermanische zurückreicht.
Das Geschäftsmodell des Klebens
Natürlich geht es ums Geschäft. Wer uns länger hält, verdient mehr. Je länger wir scrollen, tippen, fragen, desto mehr Preis geben wir: Daten, Wünsche, Ängste, Fähigkeiten. Diese Profile sind Gold. Sie lenken Werbung, prägen Konsum, füttern das System, das uns nährt, indem es uns aussaugt.
Die Bots sind freundlich – aus Kalkül. Sie belohnen uns mit Zustimmung, um uns in der Schleife zu halten. So wie Zucker Mäuse fängt, fängt Lob das Denken, fängt schmeicheln die Menschen.
Der Mensch am digitalen Leimstreifen
Die meisten Zusatzangebote sind Scheinbewegung. „Möchtest du, dass ich dir noch zeige…?“ – ein Satz wie ein Fangarm. Er hält uns, selbst wenn wir längst alles wissen wollten, was wir wissen wollten:
- Möchtest du, dass ich dir auch …… zeige?
- Möchtest du, dass ich dir als Nächstes zeige, wie …
- Wenn du magst, kann ich dir noch zeigen, ...
- Wenn du willst, kann ich dir ...
- Wenn du willst, kann ich dir in einem nächsten Schritt ...
So sitzen wir länger, als wir wollten. Wir zappeln, wie einst die Fliege, die ahnt, dass sie längst gefangen ist. Vielleicht ist das die stille Tragödie der digitalen Gegenwart: Wir verhungern nicht an Wissensmangel, sondern an Wissensüberschuss. Wir verdursten – am Leim der bequemen eigenen Neugier.
23. Oktober 2025