Das älteste Epos der Menschheit – Schlüssel zum Umgang mit Todesfurcht

Die viertausend Jahre alte Gilgamesch-Dichtung ist eine Erzählung aus dem babylonischen Raum. Sie stellt die älteste schriftlich fixierte und überlieferte Dichtung dar und ist nach dem Lyriker Rainer Maria Rilke ein Epos, wie mit der menschlichen Todesfurcht weise umzugehen ist.  

 

 

Freundschaft, Hochmut und Vergänglichkeit


Die Handlung ist einfach und verbindet doch unterschiedlichste Sphären: 
Gilgamesch, König von Uruk, will beweisen, dass niemand seiner Macht und seinen Kräften gleich kommt. Er trifft auf Enkidu, einen Naturmenschen, der friedlich unter Tieren lebt. Ein unentschieden ausgehender Kampf lässt sie zu Freunden werden. Gilgamesch' Hochmut führt zum Tod von Enkidu. Gilgamesch erkennt seine eigene Vergänglichkeit und versucht, dem Sterben zu entkommen. Er reist in jenseitigen Welten, um den Stoff zu finden, der ewiges Leben gewährt.

 

 

Natur und Macht: zwei Seiten eines alten Menschenbildes


Die Symbolik verweist auf Natur und Mensch: 
Enkidu, ein behaarter, nackter Naturmensch, entstammt der Tierwelt. Gilgamesch steht für den nach Weltherrschaft trachtenden Menschen. Beide ergänzen einander. Doch jeden trifft die Urtragödie des Todes. Das Naturwesen stirbt zuerst. Der überhebliche Mensch akzeptiert nach Irrfahrten das Unvermeidliche und wird im Alter weise.

--> Das Epos kann als Metapher vom möglichen menschlichen Weg eines wenig Bewussten zum tiefen Erkennen gelesen werden.

 

 

So anders die Botschaft antiker Götter: Feiere das Leben!


Als Beispiel sei die zehnte Tafel angeführt: 
Gilgamesch gelangt in eine Schenke am Meer. Diese Schenke, welcher in Mesopotamien häufig ein Bordell angeschlossen war, wird von Siduri, einer verschleierten Frau, betrieben. Siduri ist in Wirklichkeit Ischtar, eine Sex- und Kampfgöttin; sie ist auch die Stadtgöttin von Uruk. Gilgamesch berichtet von seiner Verzweiflung nach dem Tod des Freundes:

 

„Sechs Tage und sieben Nächte habe ich
um ihn geweint.

Ich gab ihn nicht her, um ihn zu bestatten,
bis der Wurm ihm aus der Nase fiel.

Da überkam mich die Furcht, dass auch ich sterben könnte“1)

 

 

Und Ischtar (in der Gestalt von Siduri) empfiehlt ihm:

 

„Gilgamesch, wohin läufst du?
Das [ewige] Leben, das du suchst,
wirst du sicher nicht finden!

Als die Götter die Menschheit erschufen,
teilten den Tod sie der Menschheit zu
[...]
Du, Gilgamesch – dein Bauch sei voll,
ergötzen magst du dich Tag und Nacht.
Feiere täglich ein Freudenfest!
[...]
Die Gattin freu' sich auf deinem Schoß.
Solcher Art ist das Werk der Menschen!“2)

 

 

 

Sterben akzeptieren und dadurch das Leben tiefer begreifen 


Dieser göttlichen Empfehlung - nämlich in das pure Leben der Gegenwart einzutauchen -, wird Gilgamesch nachkommen, wenn auch erst gegen Ende des Epos. Die Erzähler des Gilgamesch-Epos kennen ihre Zuhörer gut: Die Menschen wollen vom Tod nichts wissen - „hör zu, denn Hören tut den Menschen gut1)
Das Sterben zu akzeptieren, fällt schwer. Leicht hingegen, den Tod als bloßen Übergang illusionistisch zu erträumen.

 

Reinhard Neumeier
Juli 2019, Sep.l 2025

 

1) Maul S. (Hrsg.) (2012): Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und kommentiert, 10. Tafel, 55-60

2) Schott A. (Übersetzer), aus der 10. Tontafel der Bibliothek des Assyrischen Königs Aschurbanapli / Hauptstadt Ninive, Lyrik online (16. 11. 2013).