Barfuß laufen - auf Wiesen und Wegen im Wienerwald dahintraben, mit der nackten Sohle Grasbüschel fühlen. Jeder Schritt sendet ein Glücksgefühl nach oben. Au - fast jeder Schritt, manchmal zwickt ein Zweig oder Steinchen. Das vergisst du rasch, du riechst den Duft des Bärlauchs und hörst das Betteln junger Vögeln in den Nestern. Du bist erhitzt, gehst, rastest dich aus und erntest den Lohn: Alle Sinnen erzählen vom Jetzt.
Für einige Momente ist ein antikes Problem gelöst worden: „Kurz ist das Leben und groß sind Wissenschaft und Kunst“ hatte Hippokrates gelehrt. Zu wenig persönliche Lebenszeit steht einer großen und vielfältigen Welt gegenüber. Wie soll auch nur das Wenigste gesehen und ausprobiert werden?
Wir haben zu wenig Zeit für zu viele Möglichkeiten. Seneca vertrat einen gemäßigten Standpunkt: das Menschenleben sei gar nicht so kurz, wir selbst machten es dazu. Es werde nur durch Nichtigkeiten, durch Genusssucht und Nachlässigkeit vertan.
Zu spät zeige der Tod, dass das Leben nicht gut eingeteilt worden ist. Das zunehmende Fühlbarwerden des Endes lehrt bisweilen in reifen Jahren, mit der Zeit haushälterisch umzugehen. Er lehrt, eine Balance zu finden zwischen notwendiger öffentlicher Zeit, in der man für andere da ist, und privater Zeit. Diese private, möglicherweise philosophisch und künstlerisch orientierte Muße Zeit verlängert das Leben. Die private Zeit aus individuell Erquicklichem und Erbauendem schafft Lebensqualität.
Dieses Dilemma verschärft sich in der Gegenwart. Eine Balance nach Seneca, einem römischen Philosophen, ist nur mehr gegen den Zeitgeist erreichbar. Auf dem einen Balken der symbolischen Waage explodieren Techniken und Weltwissen. Je mehr Wissen aufgehäuft wird, umso größer werden die Lücken zwischen den Wissensstückchen. Wissenschaftliche Antworten bringen nur kurze Atempausen. Hinter jeder Antwort lauern Überraschungen und Abgründe. Wissenschaftliche Tätigkeit zwingt zum permanenten Aufwerfen neuer Fragen.
Der Inhalt der andere Seite der Waage – das individuelle Lebensempfinden – verwandelt sich in etwas selten Vorhandenes. Hygiene und Medizin verlängern menschliches Leben. Doch das pausenlose Abarbeiten von (sich immer neu ergänzenden) To-do-Listen verkürzt das gefühlte Leben. Es rast vorbei. Obwohl günstigerweise Zeitgewinn ohnehin der Motor der Gegenwart ist.
Nur werden die gewonnenen Tage und Monate vergeudet. Die private Mußezeit - die anspruchsvoll verbracht werden soll, um ein erfülltes Leben zu erhalten - schrumpft wie zu heiß gewaschene Wäsche.
Hufeland, historisch einer der berühmten deutschen Ärzte, schlug vor 200 Jahren einen Weg der Gelassenheit vor. Wie seinem geistigen Ahnherrn Hippokrates ging es ihm um eine Kombination aus sanfter Medizin und vernünftiger Lebensführung. Sein Ideal war das heitere Gemüt. Er empfiehlt Unspektakuläres wie: einen Tag auf dem Land in guter Luft zu verbringen, den Umgang mit Freunden.
All das führt zu einem 'großen' und langen Leben. Groß heißt zum Beispiel jener Augenblick, zu dem du mit Goethe sagst: „Verweile doch Du bist so schön“ - Diese Momente zählen, nichts anderes. Wir erspüren sie am gesamten Leib, im Herzen und mit der Seele. Schmuggeln wir doch mit List kleine Fenster und Handlungsroutinen in den hektischen Alltag.
Entwickeln wir einen Sinn für Langsamkeit. Natürlich kann nicht jeder täglich barfuß im Wald laufen. Aber Lyrisches erspüren, das eine oder andere vor unseren Füßen sich anbietende Mosaiksteinchen der Welt aufheben, das können wir. Eine Tasse Tee aufmerksam zubereiten und trinken, alle Zeichen eines abziehenden Gewitters beobachten: Das sind wertvolle Kurzausstiege aus dem Strom der Zeit.
Sie unterlaufen den eingangs angesprochenen Satz von Hippokrates, wonach der Mensch zuwenig Zeit habe für zu viel Welt. Diese Ausstiege schaffen das scheinbar Paradoxe, nämlich einige Schritte in Richtung eines „viel Zeit für viel Welt“-Habens .
Reinhard Neumeier, Mai 2009